Wenn Chris Reeve Knives seine Erfolgsmodelle Sebenza, Inkosi, Mnandi und Impinda auf einen neuen Klingenstahl umstellt, wirkt diese Entscheidung weit über das Unternehmen hinaus und beeinflusst die gesamte Messerszene. Seit Mitte 2021 werden die ersten Messer mit Klingen aus CPM-S45VN ausgeliefert. Der Stahl ersetzt den bekannten und bewährten CPM-S35VN. Die Bezeichnung beider Stähle legt eine weitgehende technische Ähnlichkeit nahe, tatsächlich besitzen die beiden Stähle kaum Gemeinsamkeiten. Zähigkeit und Bruchsicherheit von CPM-S45VN sollen zudem schlechter sein als beim Vorgänger. Knife-Blog geht den Gerüchten auf den Grund, erläutert die Daten und Fakten und klärt die Frage, warum der Wechsel zum Klingenstahl CPM-S45VN unausweichlich war.
Inhalt und Übersicht
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Kein anderer Messermacher und keine andere Firma haben mit einem einzigen Messermodell die Welt der Messer so stark beeinflusst wie Chris Reeve mit seinem Sebenza. Mit dem Modell Inkosi wurde dem Klassiker ein modernes Taschenmesser an die Seite gestellt. Seit mehr als zwanzig Jahren verwendet Chris Reeve Knives Klingenstähle, die unter Mitwirkung der Firma aus Idaho von Crucible Steel produziert werden. CPM-S45VN ist bereits der dritte Klingenstahl dieser Art. Erstaunlich ist, dass sich das Legierungskonzept von CPM-S45VN deutlich von seinen Vorgängern unterscheidet. Neben Chris Reeve Knives werden zukünftig auch zahlreiche weitere Hersteller CPM-S45VN einsetzen; daher ist ein prüfender Blick auf diesen Stahl geboten.
Auch CPM-S30V und CPM-S35VN wurden von anderen Firmen eingesetzt und haben in den letzten 20 Jahren eine bedeutende Rolle gespielt. Die Entwicklung beider Stähle gehen noch auf den genialen Kopf von Chris Reeve zurück, der in Zusammenarbeit mit anderen Größen der Messerwelt die Entwicklung der beiden neuen Klingenstähle bei Crucible Industries maßgeblich beeinflusst hat. Chris Reeve hat sich längst in den Ruhestand begeben und steht heute weder seiner Firma noch dem Stahlhersteller als Berater zur Verfügung. Wer bei der Entwicklung von CPM-S45VN federführend war, ist nicht bekannt.
Die beiden „alten“ Stähle unterscheiden sich nicht grundlegend. Man könnte sagen, dass S35VN „nur“ eine optimierte Variante des S30V war. Das Grundkonzept der Legierungen ist fast identisch. Der Kohlenstoffanteil ist bei S35VN um 0,11 Prozent geringer und ein Prozent Vanadium wurden durch 0,5 Prozent Cobalt und 0,5 Niob ersetzt. Die Anteile von Chrom (14 %), Molybdän (2 %), Wolfram (0,4 %), Mangan und Silizium (jeweils 0,5 %) blieben gleich.
Der Klingenstahl CPM-S45VN im Detail
Mit CPM-S45VN haben Chris Reeve Knives und Crucible Steel aber einen völlig neuen Weg eingeschlagen. Der Kohlenstoffanteil wurde auf 1,48 Prozent erhöht und liegt nun wieder auf dem Wert des S30V. Eine signifikante Veränderung hingegen beim Element Chrom: Der Chromanteil stieg von 14 auf 16 Prozent. Die Anteile von Molybdän und Vanadium wurden unverändert übernommen, das Wolfram fiel dem Rotstift zum Opfer. Ein halbes Prozent Niob und 0,15 Prozent Stickstoff runden das Legierungskonzept von S45VN ab.
C | Cr | V | Mo | N | Nb |
---|---|---|---|---|---|
1,48 % | 16,0 % | 3,0 % | 2,0 % | 0,15 % | 0,50 % |
Was die verschiedenen Legierungselemente bewirken, ist im Messerstahl Kompendium ausführlich erklärt, deshalb hier nur die simplifizierte Schlussfolgerung aus der Veränderung des Legierungskonzeptes: Der höhere Chromanteil sorgt für höhere Verschleißfestigkeit, etwas bessere Polierbarkeit und höhere Korrosionsträgheit, allerdings waren S30V und S35VN mit 14 Prozent Chromanteil bereits ausreichend korrosionsträge.
Mehr Niob und Kohlenstoff sorgen für mehr Härte und geringfügig bessere Schnitthaltigkeit, gleichzeitig verringert sich durch Niob und den erhöhten Chromanteil die Zähigkeit, also die Bruchfestigkeit des Stahls. Der Verzicht auf Cobalt kann zur Erhöhung der Korngrößen führen, was sich ebenfalls negativ auf die Zähigkeit von CPM-S45VN auswirkt.
Im Gegensatz zu fast allen anderen Messerherstellern hat Chris Reeve Knives für Taschenmesser und Fixed Blades bisher immer nur einen einzigen Klingenstahl verwendet. Ob das auch in Zukunft so bleiben wird darf man bezweifeln, die Eigenschaften von S45VN deuten auf einen eigenen Stahl für Fixed Blades hin.
Die Taschenmessermodelle werden seit Kurzem mit Klingen aus CPM-S45VN ausgestattet, bei den Fixed Blades dominiert nach wie vor S35VN. Möglicherweise möchte Chris Reeve Knives auf diese Art nur den Lagerbestand an S35VN verwerten. Es ist aber auch denkbar, dass die Verwendung von CPM-S45VN für lange Klingen oder hohe Belastungen noch nicht ausreichend getestet ist.
Die Website von Chris Reeve Knives ist nicht auf dem aktuellen Stand und als Informationsquelle nicht hilfreich. Dort wird als Klingenstahl noch S35VN angegeben und CPM-S45VN wird nur als „bald verfügbar“ bezeichnet. Tatsächlich werden Sebenza 31, Inkosi und Mnandi längst mit Klingen aus diesem Stahl ausgeliefert. Das Impinda wird zurzeit auf den neuen Klingenstahl umgestellt. Eine Anfrage von Knife-Blog zu den Vor- und Nachteilen des neuen Stahls und seiner Eignung für Fixed Blades mochte Chris Reeve Knives nicht beantworten. Dass es für die Zurückhaltung offenbar gute Gründe gibt, zeigt sich im folgenden Abschnitt.
CPM-S45VN schlechter als CPM-S35VN?
In einigen Internetforen kochen bereits die Gemüter. Die Zähigkeit, also auch die Bruchsicherheit des neuen Stahls soll deutlich schlechter sein als beim Vorgänger S35VN. Der neue CPM-S45VN Stahl sei daher nicht für Messer mit feststehender Klinge geeignet. Die Argumentation stützt sich auf Datenblätter von Crucible Industries. Dort ist für die „Toughness“ des CPM-S45VN Stahls ein geringerer Wert angegeben als für CPM-S35VN. Dazu kommt die etwas höhere Härte nach Rockwell beim S45VN, die je nach Wärmebehandlung bis zu 64,6 HRC betragen kann.
Chris Reeve Knives gibt auf der „Birth Card“ eines aktuellen Inkosi die Härte nur sehr vage mit 60 bis 62 HRC an. Der erste Wert, 60 HRC, wäre keine nennenswerte Verbesserung gegenüber den Werten von S35VN, der zweite Wert, 62 HRC, würde die Zähigkeit des CPM-S45VN Stahls spürbar vermindern.
Andere Messerfans äußern die Befürchtung, dass CPM-S45VN eine schlechtere Schnitthaltigkeit als CPM-S35VN aufweisen könnte und auch sie berufen sich auf die geringere „Toughness“ des Stahls. An dieser Stelle tritt ein Übersetzungsproblem auf. Viele Lexika (u. a. Pons, Langenscheidt) übersetzen das englische Wort „Toughness“ mit „Härte“. Spricht man allerdings von Stahl, bezeichnet „Toughness“ die Bruchfestigkeit (Zähigkeit) und das englische Wort für die Härte eines Stahls lautet „Hardness“.
Der Vorwurf, CPM-S45VN sei weniger schnitthaltig, erreiche eine geringere Härte nach Rockwell oder lasse sich nicht so scharf schleifen wie S35VN, ist damit vom Tisch. Ausgehend vom Datenblatt dürfte die Schnitthaltigkeit von CPM-S45VN sogar ein Quäntchen besser sein als bei S35VN. Allerdings ist der Unterschied marginal, sodass sich in der Praxis kein Unterschied feststellen lassen wird.
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Zurück zur Zähigkeit. „Toughness“ klingt nach einem simplen Sachverhalt und einfachen Messungen, aber die Materie ist kompliziert. Nicht nur die Messung selbst, auch die Bewertung von Messergebnissen ist mit Fallgruben und Tretminen gespickt.
Die „Toughness“ eines Stahls wird per Kerbschlagbiegeversuch ermittelt. „Charpy-V Impact Test“ nennt man dieses Prüfverfahren in den USA, in Deutschland ist es als Charpy-Kerbschlagbiegeversuch nach DIN EN ISO 148-1 bekannt. Allerdings sind die Prüfmethoden in den USA und Deutschland unterschiedlich und nur schwer vergleichbar, da es zwei unterschiedliche Prüfszenarien (Longitudinal und Transversal) gibt und zudem in unterschiedlichen Einheiten gemessen wird. Wer sich für die Details interessiert, findet alle Informationen auf der oben verlinkten Wikipedia-Seite und am Ende des Artikels im Abschnitt „Links“.
Ein Vergleich der Zähigkeit von CPM-S45VN mit Böhler M390 ist unmöglich, da beide Hersteller keine Messwerte angeben. Bei allen von dritter Seite veröffentlichten Messwerten fehlt die Beschreibung der Messmethoden und Messfehlergrößen. Zusätzliches Misstrauen erzeugen die großen Unterschiede bei Messergebnissen aus den Tiefen des Internets. Oft stehen Fabelwerte höchst ernüchternden Zahlen gegenüber. Sicher ist nur: Für Fixed Blades mit Klingenlängen über sechs Zoll oder Survival-Messer gehören weder CPM-S45VN noch Böhler M390 zur ersten Wahl.
Höchstwahrscheinlich wird CRK seine Modelle „Green Beret“ und „Pacific“ auf den neuen MagnaCut Stahl statt auf CPM-S45VN umstellen, wenn die Bestände an S35VN aufgebraucht sind. Oder S45VN wird nur für einen kurzen Zeitraum verwendet, bis MagnaCut verfügbar und ausreichend getestet ist. Viele Klingenbrüche werden in der Praxis bis dahin wohl nicht auftreten, da die teuren Edelmesser eher in Vitrinen glänzen, als im harten Messeralltag bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gefordert zu werden.
Fortschritt, Rückschritt oder Flop?
Ist CPM-S45VN wirklich neu? Ja und Nein! Ein Blick auf das Legierungskonzept zeigt eine erstaunliche Nähe von CPM-S45VN zum MC63 Stahl des japanischen Herstellers Takefu. Unterschiede liegen weniger im Legierungskonzept als in höherer Reinheit und modernerer Herstellungstechnik beim CPM-S45VN. Lax formuliert könnte man sagen: CPM-S45VN ist die pulvermetallurgische Version von MC63, angereichert mit jeweils einer Prise Niob und Stickstoff.
Ein Flop ist der neue Klingenstahl von Chris Reeve Knives sicherlich nicht. Die Befürchtungen mancher Messerfans hinsichtlich der Bruchfestigkeit des Stahls dürften sich zumindest bei Taschenmessern als unbegründet erweisen. Die Hinweise in den technischen Daten reichen nicht aus, um bei Taschenmesserklingen in der Praxis eine erhöhte Bruchgefahr befürchten zu müssen. Ebenso wenig wird sich die minimal höhere Härte in der Praxis bemerkbar machen. Einen Fortschritt gegenüber CPM-S35VN kann man CPM-S45VN allerdings auch nicht attestieren. Den Platzhirsch Böhler M390 wird CPM-S45VN garantiert nicht vom Thron stoßen.
Der neue Stahl ist weder ein Fortschritt noch ein Rückschritt, sondern eher ein Schrittchen zur Seite. Kritisch formuliert könnte sagen: Mit CPM-S45VN tritt man aus technischer Sicht auf der Stelle.
Gutes Geld und guter Ruf
Warum wechseln Chris Reeve Knives und viele andere Messerhersteller den Klingenstahl, wenn die Veränderung zu keinem technischen Fortschritt und bestenfalls zu keiner Verschlechterung führt? Auch bei dieser Frage liefern die Legierungskonzepte von S35VN und S45VN eine plausible Antwort.
CPM-S35VN weist im Gegensatz zu S30V und S45VN einen Anteil von 0,5 Prozent Cobalt auf. Durch die Zugabe von Cobalt wollte man die Härte erhöhen und die Effektivität der Karbidbildner Wolfram und Vanadium stärken. Doch der Schuss ging nach hinten los. Cobalt hat seinen Preis auf dem Weltmarkt seit der Vorstellung von S35VN mehr als vervierfacht.
Cobalt ist ein seltenes Element mit einer Häufigkeit in der Erdkruste von 0,004 Prozent. Das Schwermetall ist in den letzten Jahren durch prekäre Arbeitsbedingungen und Kinderarbeit in den Hauptförderländern Sambia und der DR Kongo zu einem Problemfall bei der industriellen Verwendung geworden. Mit Beginn der Batterieherstellung für Elektrofahrzeuge ist der weltweite Bedarf an Cobalt enorm gestiegen, was zu der bereits erwähnten Preisentwicklung geführt hat. Die Schere zwischen Angebot und Nachfrage geht bei Cobalt immer weiter auseinander, sodass in absehbarer Zukunft mit weiter steigenden Preisen und zeitweiser Nichtverfügbarkeit zu rechnen ist.
Tatsächlich verteuert der halbprozentige Anteil von Cobalt eine Tonne Rohstahl im Vergleich zu 2009 um viele Tausend Dollar, wenn man Logistikkosten sowie Aufwand und Verluste im Produktionsprozess berücksichtigt. Auch das eingesparte Wolfram schlägt zu Buche, wenn auch der Preis für dieses Metall in den letzten Jahren bei Weitem nicht so stark gestiegen ist wie bei Cobalt. Dafür schwankt der Wolfram Preis stark und wer zur falschen Zeit kaufen muss, verliert einen Haufen Geld.
Zusätzlich ist die Verwendung von Cobalt problematisch für ein Unternehmen, dass sich umweltfreundlich, nachhaltig und ethisch verantwortungsvoll präsentieren möchte. In einem Satz zusammengefasst ist CPM-S45VN nicht nur preislich attraktiver als seine Vorgänger, er beugt auch Vorwürfen hinsichtlich mangelnder Nachhaltigkeit vor. So ergibt sich eine Win-win-Situation für den Stahlproduzenten und die Messerhersteller.
Chris Reeve Knives und die Geschichte ihrer Klingenstähle
Chris Reeve begann 1975 in seiner Garage in Durban mit der Herstellung von Messern. Neun Jahre später wurde das Hobby zum Beruf und ab 1984 bestritt er seinen Lebensunterhalt als Custom Knifemaker. Zu dieser Zeit war Chris Reeve in Europa nur einer kleinen Gruppe von Freunden handgemachter Messer bekannt.
Als Chris Reeve 1989 in die USA auswanderte und seinen Wohnsitz nach Boise, Idaho verlegte, war er immer noch unbekannt und schlug sich der Messerherstellung zunächst mehr schlecht als recht durch. Sein kometenhafter Aufstieg begann, als amerikanische Fachzeitschriften die Customs des südafrikanischen Messermachers vorstellten. Die Taschenmesser von Chris Reeve waren nicht nur technisch perfekt, sondern überzeugen vor allem durch ihre hohe Qualität und Praxistauglichkeit. Die wohl bekannteste Innovation war das Framelock, das daher auch den Namen „Reeve Integral Lock“ trägt.
Mitte der 1990er-Jahre standen die Kunden Schlange, um eines der damals noch handgefertigten Messer von Chris Reeve zu erwerben. Als Klingenstahl setzte Chris Reeve damals den auch bei deutschen Messermachern sehr populären ATS-34 Stahl ein. Vom Frühjahr 1997 bis Anfang 2002 verwendete Chris Reeve den Stahl BG-42, der heute noch Kultcharakter besitzt.
Mit CPM-S30V wurde ab 2002 der erste pulvermetallurgische Stahl für die – inzwischen zahlreichen – Messermodelle eingesetzt, der 2011 durch S35VN ersetzt wurde.
Typisch für Chris Reeve Knives ist, dass stets nur ein einziger Klingenstahl für alle Messermodelle verwendet wird. Trotzdem sind die Zeitpunkte der jeweiligen Umstellung unscharf, weil neben Messern aus der aktuellen Produktion auch Lagerbestände abverkauft wurden, deren Klingen noch aus dem Vorgängerstahl gefertigt waren.
Im November 2019 lieferte Crucible Steel die ersten Chargen des neuen CPM-S45VN aus. CPM-S45VN ist keine optimierte Variante seines Vorgängers, sondern ein völlig anderer Stahl. Viele Änderungen im Legierungskonzept, die beim Übergang von S30V zu S35VN vorgenommen wurden, finden sich bei S45VN nicht mehr.
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Links
- Technik: Charpy Impact Steel Testing (in Englisch)
- Website: Chris Reeve Knives
- Knife-Blog Artikel: Chris Reeve Sebenza und Inkosi im Vergleich
- Knife-Blog Artikel: Der beste Messerstahl für Taschenmesser