Stickstoff als Legierungselement für Messerstahl

Das Geheimnis scharfer Klingen: Wie Stickstoff die Performance von Messerstählen beeinflusst

In Berichten auf Knife-Blog steht normalerweise ein spannendes Messer im Mittelpunkt und der Klingenstahl spielt lediglich eine Nebenrolle. Heute ist es umgekehrt, alles dreht sich um die Frage, welche Eigenschaften eines Klingenstahls durch die Zugabe einer kleinen Menge Stickstoff verändert werden. Spätestens seit der Vorstellung von MagnaCut haben Messerstähle mit Stickstoffanteil an Aufmerksamkeit gewonnen und so stellt sich die Frage, ob und wie Stickstoff die Performance von Messerstahl erhöhen kann. Technik- und Stahl-Freaks kommen heute auf ihre Kosten. Es geht ins Detail, aber langweilig wird es trotz ein wenig Chemie und Physik nicht. Manchmal kann eine Recherche zum Thema „Stickstoff als Legierungselement“ sogar unvermutet kuriose Züge annehmen, wie sich am Beispiel des deutschen Stahls Nitro‑B zeigt.

Stickstoff ist ein chemisches Element mit der Ordnungszahl 7 und dem Elementsymbol N. Der Name leitet sich von der lateinischen Bezeichnung Nitrogenium ab, der sich im Englischen als „Nitrogen“ erhalten hat. Etwas martialischer mutet hingegen das deutsche Wort „Stickstoff“ an, denn es wurzelt in der Tatsache, dass molekularer Stickstoff Lebewesen oder ein Feuer durch den Entzug von Sauerstoff buchstäblich ersticken kann.

Das Element Stickstoff

Im Periodensystem der Elemente steht Stickstoff an siebenter Stelle zwischen dem leichteren Element Kohlenstoff und dem schweren Sauerstoff. Molekularer Stickstoff (Distickstoff, N2) ist ein farbloses, nicht brennbares Gas und mit einem Volumenanteil von 78,09 Prozent Hauptbestandteil der Luft. Für Pflanzen ist Stickstoff lebensnotwendig, um per Fotosynthese Eiweiße produzieren zu können. Stickstoff wird daher als Pflanzendünger (z. B. Kuhdung, Guano, chemischer Dünger) verwendet. Trivia am Rande: Laut Wikipedia wurde bis heute bereits jedes dritte Stickstoffatom in der Biosphäre einmal von der Düngemittelindustrie verarbeitet.

Stickstoff ist ein Inertgas und somit ungiftig. Als Treibgas oder als Gas zum Aufschlagen von Sahne ist es mit der Kennnummer E 941 als Lebensmittelzusatzstoff zugelassen. Flugzeugreifen werden aus Sicherheitsgründen nicht mit Atemluft, sondern mit Stickstoff befüllt; der Verzicht auf Sauerstoff verringert die Brandgefahr nach Reifenplatzern oder bei überhitzten Bremsen.

Legierungselemente für Stahl - Stickstoff

In den Fokus der breiten „Messer-Öffentlichkeit“ ist Stickstoff erst kürzlich durch die Vorstellung des neuen Superstahls MagnaCut gekommen. Erfinder Larrin Thomas hat seinem Stahl nur 0,2 Prozent Stickstoff zugefügt, was auf den ersten Blick als vernachlässigbar geringe Menge erscheinen mag. Tatsächlich verändert aber schon eine geringe Menge Stickstoff die Eigenschaften des fertigen Stahls entscheidend.

Oberflächenhärtung mittels Stickstoff

Was nach moderner Verfahrenstechnik klingt, ist genau genommen ein alter Hut. Der teilweise Ersatz von Kohlenstoff durch Stickstoff in Stahllegierungen wurde bereits vor über einhundert Jahren erforscht. Ausgangspunkt war zunächst nicht das Einbringen von Stickstoff in die Schmelze, sondern das Härten der Oberflächen von Eisenlegierungen.

Bereits 1908 meldete der amerikanische Wissenschaftler Adolph Machlet den Prozess der Gasnitrierung mittels Ammoniak zum Patent an. Beim Nitrieren wird der Stahl auf rund 500° Grad erwärmt und einem stickstoffreichen Gas, in der Regel Ammoniak (NH₃), über einen längeren Zeitraum ausgesetzt. Dadurch diffundiert der Stickstoff in die Oberfläche des Metalls, sodass über dem weichen Kern eine harte Oberfläche entsteht.

Stickstoff als Legierungselement

Die Geschichte von Nitrogenium als Legierungselement lässt sich durch Patentanmeldungen von Krupp in den USA bis ins Jahr 1923 zurückverfolgen. Bereits drei Jahre später veröffentlichte F. Adcock den Artikel „The Effect of Nitrogen on Chromium and some Iron-Chromium Alloys“ („Die Wirkungen von Stickstoff in Eisen-Chrom-Legierungen“).

Rückschau: Vor einigen Jahrzehnten gehörte AISI 440C neben ein paar Werkzeugstählen zu den besten Messerstählen auf dem Markt. Zudem war der Stahl preisgünstig und weltweit verfügbar. AISI 440C zeichnet sich durch hohe Korrosionsresistenz aus, ist leicht zu bearbeiten und lässt sich ohne großen Aufwand auf Spiegelglanz polieren, was damals den Geschmack der Zeit traf. Die Schwächen von 440C sind seine mäßigen Werte bei Zähigkeit und Schnitthaltigkeit, weshalb der Stahl spätestens mit Auftauchen der ersten pulvermetallurgischen Messerstähle kurz vor der Jahrtausendwende im Bereich hochwertiger Messer ausgedient hatte.

Schon seit den 1930-er Jahren suchten die Techniker nach Wegen, um korrosionsträge Stähle mit hohem Chromgehalt durch die Zugabe von Vanadium und Wolfram auf mehr Verschleißfestigkeit und höhere Härte, sprich: Schnitthaltigkeit zu trimmen. Härte und Schnitthaltigkeit konnten allmählich verbessert werden, doch mit zunehmender Härte gerieten die Stähle immer spröder und wurden anfälliger für Risse und Brüche. Bald war klar, dass man allein mit Chrom, Mangan, Wolfram, Vanadium und Molybdän nicht weiterkommen würde.

Neue Ideen mussten her und man bediente sich aus den Erkenntnissen, die man beim Nitrieren erlangt hatte. „Wenn sich mit Stickstoff Oberflächen härten lassen“, überlegten die Wissenschaftler, „konnte dieses Element unter Umständen sogar die Härte der gesamten Stahllegierung verbessern.

Von Atomen und Kristallgittern

Ein typisches Merkmal von Metallen ist der kristalline Aufbau der Atomstruktur. Auf die einzelnen Atome wirken dabei anziehende und abstoßende Kräfte, wobei sich ein Gleichgewicht einstellt, das bei Festkörpern zu einer kristallinen Struktur mit regelmäßiger Anordnung der Atome führt. Ist das Metall geschmolzen, gibt es keine gitterartigen Strukturen. In einer Stahlschmelze sind die Atome in alle Richtungen frei beweglich.

Eisen bildet ein kubisches Raumgitter. An den Eckpunkten dieses Gitters befinden sich die Eisenatome. In der vereinfachten, schematischen Darstellung ist das in die Gitterstruktur des Eisens eingelagerte Stickstoffatom in Rot dargestellt.

Um die gewünschten Kristallstrukturen zu erreichen, muss das Metall bei Raumtemperatur langsam oder mittels Kryotechnik schlagartig abgekühlt werden. Anschließende Wärmebehandlungen wirken sich positiv auf die Entstehung der Kristallstrukturen aus.

Legierungselement Stickstoff - Kristallgitter (Schematische Darstellung)

In geringen Konzentrationen bildet Kohlenstoff mit Eisen keine feste chemische Verbindung, sondern lagert sich in den Gitterlücken des Eisenkristallgitters ein. Wird dem Stahl Stickstoff zugefügt, verdrängt er einen Teil der Kohlenstoffatome aus dem Gitter der Eisenatome und nimmt dessen Platz ein.

Wie Stickstoff in die Legierung gelangt

Auf Basis eines thermodynamischen Modells wird der optimale Anteil des Stickstoffgehalts im Edelstahl berechnet. Dr. Larrin Thomas hat auf seinem Blog „Knifesteelnerds“ ausführlich über seine Ideen, Hoffnungen und Befürchtungen hinsichtlich der korrekten Berechnung des Stickstoffanteils bei MagnaCut berichtet. Da experimentelle Messungen in einem Hochtemperatur-Induktionsofen möglich, aber aufwendig sind und trotzdem Fragen offenbleiben, validiert man den optimalen Stickstoffanteil stattdessen oft durch Simulationen mit der Software Thermo-Calc.

Steht der Wert fest, wird Stickstoffgas mit einer Hochtemperatur Lanze unter konstantem Druck in die Stahlschmelze injiziert. Dadurch wird der Stickstoff auf den geschmolzenen Edelstahl übertragen. Die Auflösungsgeschwindigkeit von Stickstoff in der Stahlschmelze nimmt mit höherer Temperatur und größerer Stickstoffflussrate zu, mit zunehmendem Gehalt an oberflächenaktiven Elementen nimmt sie jedoch deutlich ab. Legierungselemente wie Chrom und Mangan mit einem negativen Wechselwirkungskoeffizienten können die Auflösung von Stickstoff in der Stahlschmelze erhöhen.

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Was Stickstoff beim Härten bewirkt

Bevor eine Stahllegierung für die Herstellung von Messerklingen geeignet ist, sind mehrere thermodynamische Arbeitsschritte notwendig. Die Austenitisierung ist ein Wärmebehandlungsprozess, bei dem Stahl auf eine ausreichend hohe Temperatur erhitzt wird, um seine kristallografische Struktur in Austenit zu ändern. Austenit ist eine der stabilen Phasen von Eisen bei hohen Temperaturen. Dieser Prozess ist entscheidend für viele Anwendungen, einschließlich der Herstellung von Edelstählen und hochlegierter Stähle.

Durch das Erhitzen werden die Carbide aufgelöst und der Kohlenstoff im Austenit geht in Lösung. Beim schnellen Abschrecken wird der Kohlenstoff zwischen den Eisenatomen eingeschlossen und es entsteht eine Gefügestruktur namens Martensit. Martensit erhält seine hohe Härte durch die Verzerrungen der Atomstruktur, die durch zwischen den Atomen eingelagerten Kohlenstoff entstehen.

Stickstoff ist ein ähnlich kleines Atom wie Kohlenstoff, das in einer Stahllegierung ähnlich wirkt. Vereinfacht kann man sagen, dass Stickstoff dabei etwas weniger effektiv ist als Kohlenstoff´, was auf Unterschiede in der Löslichkeit, Reaktivität und der Art und Weise, wie diese Elemente mit dem Eisen interagieren, zurückgeführt werden kann. Dennoch verändert bereits eine kleine Menge Stickstoff in der Legierung die Eigenschaften des Stahls in fünf verschiedenen Punkten:

  • Stickstoff kann die Festigkeit von Stahl erhöhen. Ähnlich wie bei Kohlenstoff werden Stickstoffatome ins Atomgitter des Stahls integriert.
  • Im Vergleich zu Kohlenstoff beeinflusst Stickstoff die Zähigkeit des Stahls weniger stark. Messerstähle mit höherem Stickstoffgehalt können somit eine bessere Kombination aus Festigkeit und Zähigkeit bieten.
  • Im Vergleich zu hoch legierten Stählen mit einem höheren Kohlenstoffgehalt weisen stickstofflegierte Stähle in der Regel eine bessere Duktilität auf. Duktilität ist eine Materialeigenschaft, die die Fähigkeit eines Werkstoffs beschreibt, sich plastisch zu verformen oder zu strecken, bevor er bricht. Das bedeutet für Klingenstahl, dass er widerstandsfähiger gegen Verformung und Bruch ist, was vor allem für lange und/oder hoch beanspruchte Klingen ein entscheidender Faktor ist.
  • Man muss dem Stahl bei der Produktion nicht mit hohem Aufwand das letzte Quäntchen Schwefel entziehen, da eine geringe Menge Schwefel in der Schmelze zusammen mit Stickstoff die Bildung kleiner, harter Carbide fördert.
  • Die Korrosionsträgheit des Stahls wird durch Stickstoff positiv beeinflusst.

Überdies gibt es weitere Wirkungen von Stickstoff auf die Legierung, die allerdings für die Verwendung als Klingenstahl weit weniger relevant sind: Die Schweißbarkeit des Stahls wird verbessert und die Rissbildung an Nähten verringert, außerdem ist die Empfindlichkeit gegenüber Wasserstoffversprödung geringer. Letztere lässt den Stahl bei Kontakt mit molekularem Wasserstoff allmählich verspröden, sodass sich nach gewisser Zeit Risse bilden oder der Stahl bricht.

Mehr Power: Stahlsorten mit Stickstoff

Mit den gängigen Legierungselementen gelang die Erhöhung der Zähigkeit bei Härtegraden zwischen 60 und 65 HRC nur in einem sehr begrenzten Umfang. Erst der Einsatz von Stickstoff schuf eine neue Stahlgeneration mit deutlich gesteigerter Zähigkeit. Stickstoff-Stähle sind mittlerweile zahlreich, schon eine schnelle Suche im Netz fördert mehr als 100 Stähle mit einem Stickstoffgehalt zwischen 0,005 und satten 4,20 Prozent (Böhler Vanax Superclean) zutage.

Legierungselement Stickstoff - Stahlherstellung

Nur wenige dieser Stähle werden derzeit für Klingen verwendet. Betrachtet man die Stahlsorten mit signifikantem Stickstoffanteil, finden sich einerseits “alte Bekannte” wie Vanax 75, Damasteel oder Nitrobe 77, aber auch einige Stähle, die bisher noch nicht als Klingenstähle Karriere gemacht haben. Ein heißer Kandidat könnte Böhlers Pulverstahl Vancron 40 sein, der mit wenig Chrom, aber mit hohen Anteilen an Kohlenstoff, Stickstoff und Vanadium einen anderen Weg beschreitet, als S30V oder MagnaCut.

Ein kurzer Blick soll sich auf drei bekannte Vertreter der Stickstoff-Stähle richten: CPM-S30V, Sandvik 14C28N und Nitro-B. Bemerkenswert ist, dass zwei dieser drei Stähle aus Europa kommen. Nitro-B wird sogar von einem in Deutschland ansässigen Unternehmen hergestellt.

14C28N und CPM-S30V sind den meisten Messerfans wohlbekannt, denn bei Taschenmessern, kleinen und mittelgroßen Fixed Blades tauchen beide Stähle regelmäßig auf. Nitro-B hingegen kennen viele Messerfans eher als Komponente hochwertiger Damaststähle denn als Klingenstahl.

CPM-S30V

Dieser pulvermetallurgische Stickstoffstahl gehört zu den bekanntesten Messerstählen der letzten zwei Jahrzehnte. Er gehört zu den wenigen Stählen, die gezielt für die Verwendung als Messerklinge entwickelt wurden und der seine Wurzeln nicht bei der industriellen Verwendung hat. US-Hersteller Spyderco und Chris Reeve Knives, um nur zwei prominente Namen zu nennen, haben diesen Stahl jahrelang bevorzugt oder zeitweise sogar ausschließlich für ihre Taschenmesser und Fixed Blades verwendet.

CPM-S30V
C N Cr Mo V W Mn Si S P
1,45 % 0,20 % 14,0 % 2,0 % 4,0 % 0,1 - 0,4 % 0,50 % 0,50 % 0,30 % 0,30 %

Bei der Entwicklung von CPM-S30V wurde Wert auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Härte und Zähigkeit gelegt, was zur Verwendung von Stickstoff in der Legierung führte. Obwohl die Zähigkeit des Stahl nach heutigen Maßstäben begrenzt ist, war S30V in diesem Punkt besser als die seinerzeit für Messerklingen geeigneten PM-Stähle (z. B. CPM-440V).

CPM-S30V ist ein PM-Stahl der ersten Generation und wurde 2009 zunächst durch den leicht verbesserten Stahl CPM-S35VN ersetzt, der ohne Stickstoff in der Legierung auskam, aber dafür ein halbes Prozent Cobalt enthielt. Wegen er explodierenden Preise für dieses Element und wegen der prekären Verhältnisse beim Abbau von Cobalt wurde S35VN 2019 durch CPM-S45VN ersetzt, dessen Zähigkeit aber an keinen seiner beiden Vorgänger heranreicht.

Dennoch muss man eine Lanze für CPM-S30V brechen, denn seinen Platz in der Stahloberklasse hat CPM-S30V nicht eingebüßt, weil er zweitklassig ist, sondern weil in den letzten zwanzig Jahren viele Innovationen neue, bessere Stähle ermöglicht haben. Im Alltagsgebrauch stehen die S30V-Klingen der Spyderco Military oder CRK Sebenza noch immer ihren Mann.

Buderus Nitro-B

Nitro-B ist ein Schmiedestahl mit Stickstoffanteil, doch der Unterschied zu den anderen Stählen in diesem Abschnitt liegt in der Tatsache, dass Buderus keine technischen Daten zur Verfügung stellt. Auf der Website des Unternehmens findet sich kein Wort zum Legierungskonzept, kein Diagramm zur Zähigkeit des Stahls in Abhängigkeit der Härte, keine Informationen zur Wärmebehandlung. Das ist höchst ungewöhnlich, denn alle anderen “Performance Metals Division” Töchter von voesalpine (u.a. Böhler) bieten qualifizierte Daten zum Download an. Knife-Blog fragt bei Buderus nach.

Nach kurzem Zögern genehmigt die Buderus Edelstahl GmbH ein Gespräch mit einem der federführenden Techniker unter der Bedingung, dass Knife-Blog dem Unternehmen einen Vorabdruck dieses Artikels zur Verfügung stellt und Buderus außerdem ein Einspruchs- und Korrekturrecht für seinen Bericht gewährt. Natürlich hat Knife-Blog abgelehnt, denn der Inhalt unserer Artikel ist nicht verhandelbar. Um Missverständnissen vorzubeugen: Angefragt waren keine Betriebsgeheimnisse der Stahlherstellung, sondern nur die grundlegenden technischen Daten, die jeder andere Stahlhersteller frei abrufbar ins Internet stellt.

Die Geheimniskrämerei ist umso unverständlicher, weil jedes gut ausgestattete Labor für Materialprüfung das Gefüge und die Legierung analysieren kann. Wenn man gerade kein Labor zur Hand hat, geht es auch einfacher. Nitro-B besitzt große Ähnlichkeit mit einem uralten Stahl der amerikanischen Firma Latrobe, der unter dem Handelsnamen 440 N-DUR verkauft wurde. Die Zahl 440 gibt einen Hinweis auf die Stahlfamilie, denn AISI 440C wurde damals häufig als Basis verwendet, um neue, bessere Stahllegierungen zu finden, das „N“ steht für Stickstoff und die Abkürzung „DUR“ für durable, also widerstandsfähig.

Stahl/Element C N Cr Mo Mn Si P S V
440 N-DUR 0,58 % 0,17 % 15,0 % 0,50 % 0,45 % 0,30 % 0,01 % 0,001 % ---
Nitro-B Buderus ≈ 0,55 % ≈ 0,15 % ≈ 15,0 % ≈ 0,50 % ≈ 0,55 % ≈ 0,6 % ≈ 0,025 % ≈ 0,001 % ≈ 0,10 %

Latrobe hat in den letzten 60 Jahren unzählige Male den Besitzer gewechselt, weshalb sich keine vollständige Timeline der produzierten Stähle mehr rekonstruieren lässt. Ob 440 N-DUR oder ein Stahl der Buderus Edelstahl GmbH zuerst auf dem Markt kam, bleibt unklar. Klar ist, dass Buderus die alte Rezeptur inzwischen durch Feinjustierung der Legierungselemente verändert hat. Knife-Blog liegt zwar ein Buderus-Datenblatt zu Nitro-B vor, durch eine zweite Quelle verifizieren lassen sich die dortigen Angaben jedoch nicht und müssen daher als zweifelhaft gelten. Deshalb ist den angeblichen Nitro-B Daten in der obigen Tabelle eine Doppel-Tilde als Ungefähr-Zeichen vorangestellt.

Ob der Grund für das Zurückhalten von Daten durch Hersteller Buderus in positiven oder negativen Eigenschaften des Stahls begründet ist, der Hersteller ein mögliches „Geheimnis“ seines Produktes vor Nachahmern bewahren will oder am Ende nur etwas Paranoia im Spiel ist, lässt sich nicht feststellen. Fest steht aber, dass der Endkunde, der ein Messer mit Nitro-B Klinge erwerben möchte, die Katze im Sack kaufen soll.

Nitro-B, die "Katze im Sack"

Sandvik 14C28N

Die meisten Stähle, die in den vergangenen 25 Jahren für Messerklingen Verwendung fanden, wurden für Kaltarbeitsanwendungen in Industriemaschinen (Stanzen, Schneiden, Bohren), in der Lebensmittelindustrie oder bei der Herstellung von Kunststoffteilen, insbesondere bei der Fertigung durch Spritzgussverfahren entwickelt. Stahlsorten, die von Beginn an als Messerstähle geplant waren, sind hingegen selten, auch wenn mit 14C28N, CPM-S30V und MagnaCut gleich drei dieser Stähle hier Erwähnung finden.

14C28N wurde von Sandvik Materials Technology entwickelt und 2007 auf den Markt gebracht. Auch bei der Entwicklung dieses Stahls stand die Steigerung der Zähigkeit im Fokus, die vor allem für Küchenmesser mit langer, dünner Klinge ein entscheidender Faktor ist. So verwundert nicht, dass der Stahl anfänglich exklusiv an KAI USA Ltd. geliefert wurde, wo er in verschiedenen Produktlinien zum Einsatz kam. Um 2011 tauchte 14C28N vermehrt auch bei Foldern, Outdoor- und Survival-Messern zahlreicher Hersteller auf.

Sandvik 14C28N
C Cr N Si Mn S P
0,62 % 14,0 % 0,11 % 0,20 % 0,60 % 0,01 % 0,025 %

Mit seiner ausgewogenen Kombination aus Härte, Korrosionsbeständigkeit und Schneidleistung, hat sich 14C28N in der Messerszene etabliert, wird aber häufig unterschätzt, manchmal sogar gering geschätzt. Zu Unrecht, denn als Allrounder für Taschenmesserklingen oder kleine bis mittelgroße Fixed Blades ist der Stahl eine gute Wahl. Härtet man den Stahl auf 61 HRC, beträgt seine Zähigkeit beeindruckende 30 ft-lbs (Foot-pound), damit ist 14C28N rund dreimal zäher als CPM-S35VN und übertrifft sogar die Zähigkeit von MagnaCut bei Härtegraden von 60 – 61 HRC deutlich.

Natürlich versuchen alle Stahlhersteller, ihre neu entwickelten Produkte vor der Nachahmung durch die Konkurrenz zu schützen und werfen gern mal eine Nebelkerze. Siehe Buderus, aber auch Sandvik ist keine Ausnahme. Bei Markteinführung kursierten für viele Monate Datenblätter, die einen überraschend hohen Stickstoffgehalt von 0,55 Prozent auswiesen. Kein Spitzenwert, die Vanax und Vancron Stähle von Böhler liegen zwischen 1,55 und sagenhaften 4,20 Prozent Nitrogen, aber dennoch sorgte der hohe Wert für einiges Kopfzerbrechen. Irgendwann verschwand das (getürkte?) Datenblatt von der Website und seitdem gibt Sandvik nur noch einen Stickstoffgehalt von 0,11 Prozent an.

CPM MagnaCut

Der Stahl wurde erst im März 2021 vorgestellt und die Legierung von MagnaCut enthält 0,2 Prozent Stickstoff. Durch eine bisher nicht für möglich gehaltene Kombination von Eigenschaften hat dieser Stahl für großes Aufsehen gesorgt. Alle Daten, Messergebnisse und Vergleichstests von MagnaCut stehen im Internet zur Begutachtung und Überprüfung bereit. Knife-Blog hat MagnaCut daher einen ausführlichen Artikel gewidmet

Wer tiefer in die Rolle von Stickstoff als Legierungselement einsteigen möchte, findet in der Vorstellung von MagnaCut durch seinen Erfinder den richtigen Startpunkt mit zahlreichen spannenden Links zu vertiefenden Informationen. Leider ist dieser Artikel, wie leider auch viele andere hilfreiche Bücher und Aufsätze, nur in englischer Sprache verfügbar.

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  • J Chipman et al.,
    Prediction of the Solubility of Nitrogen in Molten Steel, AIME Trans, (1965),
  • MO Speidel,
    New Nitrogen-Bearing Austenitic Stainless Steels With High Strength and Ductility, Metal Science and heat Treatment, (2005).
  • G Balachandran et al.,
    Some Theoretical Aspects on Designing Nickel Free High Nitrogen Austenitic Stainless Steels, (2001).
  • MO Speidel,
    Nitrogen Containing Austenitic Stainless Steels, (2006).
  • Dr. Larrin Thomas,
    Nitrogen-Alloyed Knife Steels, (2018).

Bildnachweis: Titelbild, Bild 2 (Stahlwerk), Bild 3 (Katze im Sack) von depositphotos.com