Die Marke „Rotwild“ ist gestandenen Mountainbikern als Hersteller ebenso edler wie teurer Zweiräder bekannt, bei den meisten Messerfans dürfte diese Marke dagegen nur ratloses Schulterzucken auslösen. Messer von Rotwild sind neu auf dem Markt, wenden sich an Liebhaber hochwertiger Jagd- und Alltagsmesser und kommen von einer bekannten deutschen Firma aus Solingen. Falsch geraten! Hinter der Handelsmarke „Rotwild“ steht – sofern es um Messer geht – die Firma Otter aus der Schwertstraße in Solingen.
Inhalt und Übersicht
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Die Firma Otter-Messer ist vielen Messerfans durch ihre Taschenmesser bekannt, aber auch Küchen- und Tafelmesser gehören zum Portfolio der Traditionsfirma. Das Mercator und das Ankermesser besitzen Legendenstatus und werden seit einer kleinen Ewigkeit im Solinger Betrieb produziert. Mit Preisen zwischen 30,- und 70,- Euro sind die beiden einfach gehaltenen Taschenmesser für jedermann erschwinglich. Die Messer der mit dem „Rotwild“ Schriftzug liegen in einer höheren Preisklasse, was sich außer bei Design und Materialwahl auch beim Finish und der Materialqualität des Zubehörs zeigt.
Der Anspruch von Otter, die Marke Rotwild im gehobenen Preissegment zu platzieren, zeigt sich bereits bei der Verpackung des Messers. Während für günstige Serien oft schnöde Pappschachteln herhalten müssen, wird das Rotwild Milan in einer großen, flachen Box mit repräsentativer Hochglanzbeschichtung geliefert. Dort finden das Messer und die zugehörige Lederscheide getrennt voneinander Platz. Ein Hauch von Luxus weht durch die Szenerie, aber in dieser Aufmachung kann man ein Messer ohne Bedenken auf den Gabentisch eines Freundes legen.
Die Marke Rotwild wurde von Otter auf der IWA 2022 der Öffentlichkeit präsentiert. Man merkt an einer Kleinigkeit, dass die Produktion der Rotwild Messer den Kinderschuhen noch nicht völlig entwachsen ist. So liegt dem mit Micarta-Griff ausgerüsteten Testmesser eine Karte bei, die zum Kauf eines Messers mit Echtholzgriff gratuliert und ausführlich darauf hinweist, dass Holz ein Naturprodukt ist, man auf „Risse oder Spalten zwischen Griff und Klinge“ keinen Einfluss habe und daher in solchen Fällen kein Reklamationsgrund vorliege.
Erstaunlich, denn in einem ebenfalls beiliegenden Booklet sprechen die Rotwildmacher von hochwertigen Materialien und bei ebensolchen kommen Risse nur selten vor. Keine Frage, ein Messer mit erkennbaren Rissen im Griffholz würde Otter nicht ausliefern oder es zumindest umtauschen, falls es durch die Qualitätskontrolle gerutscht sein sollte. Dass Risse im Miniaturformat bei einigen Edelhölzern vorkommen, ist den Messerfans ohnehin bekannt. Insofern lässt sich erahnen, wie häufig Messerhersteller mit fragwürdigen Reklamationen konfrontiert werden. Trotzdem wirkt der Text auf der beiliegenden Karte für ein Messer aus dem gehobenen Preissegment ein wenig befremdlich.
Rotwild Milan – Jagdmesser, EDC oder beides?
Otter hat dem kleinen Fixed Blade die Modellbezeichnung „Milan“ gegeben und spielt damit auf den in Deutschland weitverbreiteten Greifvogel an, den wir als Rotmilan oder unter dem Trivialnamen Gabelweihe kennen. Da der Rotmilan ein Suchflugjäger ist, der sein Revier im langsamen Gleitflug systematisch nach Beutetieren absucht, ist die Namenswahl für ein Jagdmesser keine schlechte Idee.
Dafür löst die Bezeichnung „Jagdnicker“ für das Rotwild Milan leichtes Stirnrunzeln aus. Ein typischer Jagdnicker besitzt nicht nur eine völlig andere Form, er besitzt auch anstelle der beidseitig angeschliffenen Klinge traditionell eine schmale, einseitig geschliffene Klinge (Meißelschliff, engl. Chisel Grind)
Jagdnicker werden zum Töten des Wildes durch einen oberhalb der Halswirbel angesetzten Stich ins Hirn verwendet und besitzen zu diesem Zweck eine längliche, stabile und nicht sehr hohe Klinge. Jäger bezeichnen diese Tötungsmethode als „abnicken“, wodurch sich der Name Jagdnicker für diese Messer erklärt. Zur bayerischen Tracht gehört ein Brotzeitmesser mit Hirschhorngriff, dessen Form heute noch einem klassischen Jagdnicker ähnelt. Die Klinge des Rotwild Milan besitzt dagegen ein kurzes, hohes Blatt, eine bogenförmige Schneide und zeigt somit die typische Kontur eines Skinners.
Nicker, Skinner, EDC, Brotzeit-, Jagd- und Alltagsmesser, das Rotwild Milan möchte in allen Disziplinen punkten. Die Hürde für Nicker reißt das Messer bauartbedingt, überwindet dafür alle übrigen Hürden mit Bravour. Dabei hilft das Grundkonzept, denn kein anderer Messertyp ist im Alltag ähnlich universell einsetzbar wie ein kleines Fixed Blade mit Drop Point Klinge. Außerdem verbergen sich im Konzept des Rotwild Milan eine Handvoll unscheinbarer Detaillösungen, die in ihrer Summe dem Jagdmesser nicht schaden, aber zur Eignung des Messers als EDC beitragen.
Klinge und Klingenstahl
Beim Klingenstahl tritt ein alter Bekannter auf: Böhler N690Co. Den kennt man von unzähligen italienischen Messermodellen von Extrema Ratio bis Fox Knives. N690 entspricht hinsichtlich Legierung und Eigenschaften weitgehend dem japanischen VG-10, bringt aber Fluch und Segen in Form einer kleinen Zugabe von Kobalt mit.
Kobalt, Dieselkraftstoff und Sonnenblumenöl haben eine Gemeinsamkeit: Alle drei Waren vollführen gewaltige Preissprünge, derzeit vorzugsweise nach oben. Die Zugabe von einem Quäntchen Kobalt macht den Messerstahl aber nicht nur deutlich teurer, sondern auch spürbar schnitthaltiger. Zudem lässt sich die Klinge feiner ausschleifen, was die Schärfe der Schneide erhöht. Negativ fällt ins Gewicht, dass Kobalt wegen problematischen Arbeitsbedingungen und Umweltschäden beim Abbau in Verruf gekommen.
Der Klingenstahl ist ordentlich, gehört zur Mittelklasse und hat sich tausendfach bewährt. Otter härtet die Klinge auf 60 – 61 HRC, was bei einer kurzen Klinge kein Problem hinsichtlich der Zähigkeit darstellt, dafür aber der Schnitthaltigkeit zugutekommt.
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Der Aufbau des Rotwild Milan ist klassisch: Flacherl und Liner sind gesetzt, dazu kann der Kunde verschiedene Griffmaterialien wählen.
Neben Griffschalen aus schwarzem Micarta wird das Rotwild Milan auch mit Griffen aus Hirschhorn, Mooreiche oder orangefarbenem Micarta verbaut.
Schmale rote Liner zwischen den schwarzen Griffschalen und dem Flacherl sorgen für einen dezenten Farbkontrast. Alle Varianten des Messers werden mit N690 Klingen ausgerüstet und besitzen die gleiche Klingenform.
Beide Griffschalen sind verschraubt. Ob sich die Verschraubung lösen lässt, ohne die darunter befindlichen Liner zu beschädigen, ist fraglich. Vor allem, wenn das Messer schon einige Jahre in Gebrauch sein sollte. Am Ende des Erl befindet sich eine Bohrung, die man aufgrund ihrer Größe kaum als Lanyard Hole bezeichnen kann. Ein breites Lederband oder sogar ein kleiner Karabinerhaken lassen sich an der Öse befestigen.
Die 3,7 Millimeter starke Klinge ist 80 Millimetern lang, sodass das Rotwild Milan nicht unter das eingeschränkte Trageverbot nach § 42a WAffG fällt. Alle rechtlichen Vorschriften zum Führen von Messern erläutert der Artikel: Waffenrecht für Messer in Deutschland einfach erklärt.
Die Klingenform des Rotwild Milan ist eine moderne Interpretation der Drop Point Klinge mit einer Prise Spear Point Blade (Dolchklinge). Die Klingenspitze liegt deutlich tiefer, ziemlich genau auf Höhe der Längsachse der Klinge. Dadurch gewährt das Messer gute Kontrolle bei der Arbeit mit der Klingenspitze und dem vorderen Teil der Schneide, was sich sowohl beim Gebrauch des Milan als Jagdmesser als auch im Alltag positiv bemerkbar macht.
Beim Anschliff verschenkt die Manufaktur von Otter keine Punkte. Die 82 Millimeter lange Schneide ist winkelstabil und symmetrisch geschliffen. Auch den neuralgischen Bereich kurz vor der Schleifkerbe zeigt einen ordentlichen Schliff mit einer minimalen Welle am Ende der Schneide. In seiner Preisklasse gehört das Messer beim Anschliff eindeutig zu den Besseren.
Design, Ergonomie und Qualität
Alle Messer mit dem Rotwild-Logo werden vollständig in Solingen gefertigt. Keine Klingenrohlinge aus Italien, keine vorgefertigten Griffschalen aus China. Das muss erwähnt werden, weil die Produktion eines Messers im Land heutzutage eine Besonderheit darstellt.
Erstaunliches findet sich rund um das Design des Rotwild Milan. Normalerweise würde man bei einer Solinger Firma den Entwurf eines deutschen Messermachers aus dem Umfeld der DMG vermuten, doch weit gefehlt. Das Design des Jagdmessers stammt aus der Feder von Gido Wahrmann und seiner Firma Wahrmann Industriedesign. Eine schicke rote Ledercouch hat die Firma aus Sprockhövel ebenso entworfen wie eine Serie von Standbohrmaschinen. Dazu ein Tabletop Lagerfeuer für den Lifestyle und E-Mobility Ladesäulen fürs kollektive grüne Gewissen.
Bei Messern ist die Auswahl von Wahrmann Design auf die Rotwild-Serie, ein Set Küchenmesser sowie eine Neuinterpretation klassischer Taschenmesser beschränkt. Die Küchenmesser tauchen bei der Firma Mono-Design aus Mettmann auf, alle anderen Messer sind für Otter gestaltet worden. Also ist Gido kein gestandener Messermacher, der kurz vor dem Abitur von der Schule flog, weil er nie zuhörte, ständig Messer zeichnete und darüber die Hausaufgaben vergaß.
Gido Wahrmann ist offensichtlich ein Newcomer im Design von Gebrauchsmessern. Gut, der Mann hat studiert, sein Metier von der Pike auf gelernt und besaß bereits vor dem Rotwild Projekt vermutlich eine gewisse Neigung zu Schneidwaren. Aber aus dem Stand ein Jagdmesser zeichnen? Einfach so? Zweifel kommen auf. Doch die Messerwelt ist voll von Industriedesignern, die hervorragende Messer zeichnen und deren Namen inzwischen mit Ehrfurcht ausgesprochen werden. Jens Ansø dürfte der bekannteste Vertreter dieser Gruppe sein.
Um das Kapitel „Design“ auf den Punkt zu bringen: Gido Wahrmann hat einen untadeligen Job abgeliefert. Das Rotwild Milan sieht nicht nur gut aus, das Messer punktet bei Ergonomie und Handhabung. Der Griff des Milan ist in der Mitte 25 Millimeter breit, knapp ebenso hoch und die Konturierung für Handballen und Finger ist ausgezeichnet gelungen. Der Griff taugt für mittelgroße Hände und ist sogar für ausgewachsene Männerpranken lang genug. Auf dem Klingenrücken findet der Daumen ausreichend Platz auf einem Jimping. Für den Zeigefinger steht eine tief ausgekehlte Fingermulde mit einer speziellen Kontur an der Griffunterseite zur Verfügung. Das Rotwild Milan hat das Zeug zum Handschmeichler.
Der üppig bemessene Griff ermöglicht bequemes, sicheres und ermüdungsfreies Arbeiten mit dem kleinen Jagdmesser. Die ergonomischen Eigenschaften machen sich natürlich auch im EDC-Alltag positiv bemerkbar und in den Disziplinen Handhabung und Schnittführung kann Newcomer Rotwild eine Reihe namhafter Anbieter abhängen.
Lederscheide inklusive!
Licht und Schatten bei der Lederscheide. Das 3,5 Millimeter starke Leder ist überraschend weich und besitzt eine angenehme Haptik. Die Oberflächen des Leders sind frei von Schadstellen und das Material ist gleichmäßig und fleckenfrei durchgefärbt.
Auch an der Verarbeitung des Leders und den Nähten gibt es nichts zu bemängeln, die Verarbeitungsqualität der Scheide liegt auf hohem Niveau. Ein Maßanzug ist die Lederscheide jedoch nicht, denn der voluminöse Griff des Rotwild Milan hätte ein oder vielleicht sogar zwei Bahnen Leder zur Unterfütterung des Klingenfachs benötigt. So drückt der Griff heftig gegen das Rückenstück der Lederscheide und verbiegt den oberen Rand des Einsteckfachs deutlich. Auch wenn der Tragekomfort nur leicht beeinträchtigt wird: Es gibt technisch bessere und optisch schönere Lösungen.
Ein breites Lederband mit Druckknöpfen soll das Rotwild Milan in der Lederscheide halten. Alternativ dazu können die Druckknöpfe auf der Rückseite der Gürtelschlaufe geschlossen werden, sodass das Messer griffbereit, wenn auch ungesichert in der Scheide steckt. Damit das Schließen auf der Rückseite funktioniert, muss das Lederband mit den Druckknöpfen relativ lang ausfallen. Genauer gesagt so lang, dass sich das Rotwild Milan auch bei geschlossener Schließe ziehen lässt.
Rotwild Milan
Obwohl die Sicherungsschlaufe geschlossen ist, lässt sich das Messer ziehen. Ein Verlustrisiko droht dadurch kaum, aber das Milan schlackert beim Laufen in der Lederscheide Hin und Her.
Ein weiteres Manko: In der Praxis zeigt sich, dass die Gürtelschlaufe der Lederscheide etwa einen Zentimeter zu kurz ist, um die Schließe hinter der Gürtelschlaufe zu schließen. Trägt man Jeans oder Outdoor-Bekleidung mit einem breiten Gürtel (35 mm oder breiter), fällt der Platz in der Gürtelschlaufe zu gering aus, um sie auf der Rückseite zu schließen. Auch wenn die Idee hinter einer variablen Schließe für die Lederscheide gut ist, hinterlässt die Art der Umsetzung ein paar Fragezeichen.
Modelle, Preise, Fazit
Klein, knuffig, robust und zuverlässig. Mit diesen positiven Attributen kann man das Rotwild Milan charakterisieren. Die wirklich gute Ergonomie gibt es zuschlagsfrei on top. Während des Reviews ist mehrfach die Frage aufgetaucht, wie groß die prozentualen Anteile von Jägern und Messerfans bei den Käufern dieses Messers wohl sein mögen. Während Jäger kein Problem damit haben, einen fünfstelligen Betrag für eine Büchse springen zu lassen, fallen ihre Investitionen in neue Messer sehr viel zurückhaltender aus.
Damit sind wir beim Preis. Für die Version mit orangefarbenen oder schwarzen Micarta Griffschalen werden im Online-Shop des Herstellers 189,- Euro fällig. Kein Pappenstiel für ein Fixed Blade dieser Größe, aber die Fertigung in Deutschland und die mitgelieferte Lederscheide relativieren den Preis. Wer Edelholz mag und den Griff nicht dauernd mit Blut besudelt, kann sich für Griffschalen aus Mooreiche entscheiden. Erstaunlicherweise ohne Preisaufschlag, denn auch diese Edelversion stand mit 189,- Euro im Onlineshop von Otter. Die Vergangenheitsform zeigt: Anfang 2023 hat Otter das Messer wieder aus dem Programm genommen. Ein Blick in die Second-Hand-Märkte dürfte sich lohnen!
Die Domäne des Rotwild Milan ist der Einsatz als Alltagsmesser. Im täglichen Gebrauch als EDC ist das Messer universell einsetzbar und leistet gute Dienste. Als Brotzeitmesser und „Messer-für-alles“ im Urlaub oder auf Wanderungen ist das Rotwild Milan eine perfekte Besetzung. Für jagdlichen Einsatz ist das Messer technisch zwar gut geeignet, aber Liner, Micarta und vor allem die Lederscheide erhöhen den Reinigungsaufwand des blutverschmierten Messers.
Die Lederscheide des Rotwild Milan ist Geschmackssache. Gutes Material, edel wirkendes Äußeres und solide Verarbeitung stehen auf der Habenseite, die geschilderten Einschränkungen mit der Griffsicherung muss jeder Messerfan im Kontext seiner Erfahrungen und Erwartungen bewerten.
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Links, technische Daten und Bewertung
- Hersteller und Bezugsquelle: Produkt ist nicht mehr verfügbar
- Designer: Gido Wahrmann
- Knife-Blog Thema: Jagdmesser
- Knife-Blog Rubrik: Messer mit feststehender Klinge
- Bauform: Feststehende Klinge, Flacherl
- Klingenlänge / -höhe: 81 mm / 30 mm
- Klingenstärke: 3,7 mm
- Klingenstahl: Böhler N690
- Gesamtlänge: 196 mm
- Ausstattung: Lanyard Hole, Lederscheide
- Gewicht ohne / mit Lederscheide: 160 / 210 g