Nicht nur ein weltumspannendes, sondern auch ein spannendes Projekt: Drei Messerprofis aus drei Ländern entwerfen und realisieren ein Slip Joint, das besonders nah an einem echten Custom sein soll. Mit Griffschalen aus Wüsteneisenholz und pulvermetallurgischem Klingenstahl soll das Taschenmesser von Martin Annegarn alltagstauglich und gleichzeitig legal zu führen sein. Knife-Blog testet das Martin Annegarn Streetlegal und berichtet über den langen, manchmal sogar steinigen Weg von der Idee zum fertigen Messer.
Inhalt und Übersicht
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Slip Joints sind die neuen Flipper!
Die Folder mit Kicker am Ricasso erlebten in den vergangenen drei Jahren einen intensiven Hype, haben die Prinzenrolle aber inzwischen an Messer mit mechanischer Zweihandöffnung verloren. Den Wandel hat das deutsche Waffengesetz mit seinen unsinnigen Führverboten natürlich maßgeblich befeuert, schließlich dürfen Zweihandmesser in der Öffentlichkeit und sogar innerhalb der Waffenverbotszonen legal mitgeführt werden. Die neue Begeisterung für Zweihandmesser hat aber auch noch ganz andere Gründe.
Lange Jahre stand der Begriff „Slip Joint“ – krampfhaft verkniffen um Modernität bemüht – als anglistisches Synonym für Opas elendig langweilige Taschenmesser mit Nagelhau und sozialistischer Einheitsklinge. Dann folgten die Gentleman Folder, also aufgemotzte Versionen von Opas elendig langweiligem Taschenmesser zum fünfzigfachen Preis. EDC-tauglich waren nach unseren heutigen Maßstäben weder das verstaubte Original noch dessen teure Bling-Bling-Version von William Henry.
Times have changed! Heute treibt die Produktgruppe der Slip Joints in Sachen Design und Qualität den Gesamtmarkt der Taschenmesser vor sich her. Das gestiegene Käuferinteresse hat neue Anbieter auf den Plan gerufen, die mit kreativen Ideen und verbesserten technischen Konzepten reichlich frischen Wind durch die Messerszene brausen lassen. Das Taschenmesser im heutigen Review ist ein solcher Fall, denn sowohl beim Design wie auch bei Materialwahl, den technischen Details und der Verarbeitungsqualität tritt es mit bemerkenswerten Eigenschaften an.
Trotz blaublütiger Gene und der Abstammung von einem namhaften Designer, trotz edler Hölzer und trotz eines pulvermetallurgischen Klingenstahls liegt der Preis des Messers noch im volkstümlichen Bereich. Doch der Reihe nach…
MAS von Martin Annegarn
Das Messer trägt als Namen das kryptische Kürzel MAS, das für „Martin Annegarn Streetlegal“ steht. Martin Annegarn ist ein Messermacher aus den Niederlanden, dessen Customs bei Fans handwerklich hergestellter Messer hohes Ansehen genießen. Auch „Streetlegal“ ist schnell erklärt: Das Taschenmesser ist hinsichtlich Technik und Abmessungen so konstruiert, dass dieses Messer – nach dem Abgang der Briten – in allen Ländern der Europäischen Union derzeit legal getragen werden kann.
Legal, illegal, streetlegal. Keine der drei Einordnungen hilft dem waffenrechtsgeplagten Messerfan bei seinem Tagwerk. Die Frage lautet also: Ist das MAS von Martin Annegarn EDC-tauglich, kann es die Standardaufgaben für leichte Taschenmesser im Alltag bewältigen?
Arbeiten wir uns zum Einstieg erst einmal durch die technischen Daten. Das Slip Joint MAS besitzt eine 67 Millimeter lange und 2,3 Millimeter starke Klinge. Geschlossen misst es 9,2 Zentimeter, geöffnet beträgt die Länge des Messers knapp 16 Zentimeter. Zwei Griffschalen aus Wüsteneisenholz sitzen auf Linern aus Titan (!), wodurch das erstaunlich geringe Gewicht von 58 Gramm erklärbar wird.
Mit dem pulvermetallurgisch herstellten Klingenstahl Böhler M390 Microclean kann sich ein Messerfan überall sehen lassen, denn er darf darauf vertrauen, dass sich Schärfe, Schnitthaltigkeit, Widerstandskraft und Alltagstauglichkeit der Klinge auf höchstem Niveau befinden. Der Stahl ist eine gute Wahl und niemand hat je verstanden, warum es gang und gäbe ist, Slip Joints mit Klingen aus preiswerten Karo-Einfach-Stählen auszurüsten. Hinsichtlich des Klingenstahls darf das Streetlegal von Martin Annegarn schon mal in der Liga der Großen mitspielen.
Konstrukteure und Konstruktion
Genau genommen ist das MAS die Koproduktion eines Kleeblatts. Martin Annegarn als Designer, TUYA Knife als Hersteller und Sascha Stoelp als Projektmanager. Gleichzeitig fungiert Sascha nicht nur als Organisator, sondern auch und vor allem als Moderator und Prellbock zwischen Designer und Hersteller. Über mangelnde Arbeit konnte sich der Prellblock nicht beklagen, denn naturgemäß gehen die Material- und Detailwünsche eines handwerklichen Messermachers nicht immer mit den Möglichkeiten eines vorher abgesteckten Preisrahmens konform.
Ein paar Beispiele. Die Griffschalen bestehen aus Wüsteneisenholz. Das bekommt man relativ günstig und in durchaus ansprechender Qualität auf dem chinesischen Edelholzmarkt. Doch dieses Holz stammt aus Asien, also aus einer anderen Klimazone. Auch wenn makellose Hölzer alle Bearbeitungsschritte überstehen, können sie später – beim Kunden – durch unkontrollierte Trocknung Risse entwickeln. Diesem Problem kann man nur durch einen langwierigen, überwachten Trocknungsprozess entgehen. Der Preis des Holzes würde sich vervielfachen und der Zeitaufwand ließe keine Verwendung für ein geplantes Projekt zu.
„Wüsteneisenholz ist ein Muss“, sagt der Designer. „Wir raten ab und übernehmen keine Verantwortung“, sagt der Hersteller. Also muss Prellbock Sascha Wüsteneisenholz in den USA beschaffen und über Deutschland nach China verschiffen. Und das mit einer unter den Auswirkungen der Corona-Pandemie leidenden Logistikbranche, geschlossenen Häfen, verschollenen Frachtcontainern und allerorts blank liegenden Nerven. Schließlich hat das amerikanische Holz den Weg zu den chinesischen Werkbänken gefunden und das MAS erhielt Griffschalen aus hochwertigem Wüsteneisenholz.
Liner aus Titan. Die Liner der ersten Prototypen bestanden wie bei den meisten Slip Joints aus Edelstahl. Doch das Gewicht erschien Martin Annegarn zu hoch und er plädierte für Titan. Das allerdings treibt den Preis des Messers ein weiteres Mal nach oben und Sascha musste die Kalkulation mit spitzem Bleistift anpassen.
Double Detent System
Eine Besonderheit der Konstruktion von Martin Annegarn ist der Verzicht auf eine Rückenfeder. Stattdessen kommt ein „Double Detent System“ zum Einsatz, das zwei Vorteile bietet. Einerseits kann der gesamte Messerrücken aus Titan gefertigt und das Gewicht weiter gesenkt werden, andererseits erlaubt das Double Detent System unterschiedliche Gegenkräfte beim Öffnen und Schließen der Klinge.
Damit adressiert Martin Annegarn ein Grundproblem des Slip Joints. Entweder sind die Öffnungskräfte zu hoch oder die Klinge klappt aus der geöffneten Position zu leicht ein. Die Klinge des Streetlegal hingegen lässt sich leicht anheben und weist beim Schließen spürbar höhere Detent-Kräfte auf. Zur Sicherheit rastet die Klinge bei einem Öffnungswinkel von 90° Grad in einen Half Stop ein.
Viel Liebe zum Detail zeichnet das MAS von Martin Annegarn auch an verborgenen Stellen aus. Ein Blick mit Taschenlampe und Lupe auf die Innenseiten der Titan Liner zeigt ein Muster, wie man es oft an den Innenseiten der Gehäusedeckel wertvoller Uhren findet. Manchmal heißt es Perlschliff, manchmal Sonnenschliff und im Englischen kennt man es als Perlée oder Starburst. Spätestens an dieser Stelle wird offenkundig, dass die Custom Gene des MAS von der Kleinserienproduktion nicht ausradiert worden sind.
MAS Streetlegal – Mehr Klinge als erwartet
Egal ob es sich um Entscheidungen bezüglich Materialien, Dekors oder technischen Detaillösungen handelt, beim Bau eines Messers stehen zwei Anforderungen über allen anderen: Die Klinge muss Schneidearbeiten effizient bewältigen und das Messer muss bequem und sicher in der Handhabung sein.
67 Millimeter Klingenlänge stellen nur wenig Raum zur Verfügung, um eine alltagstaugliche, effektive Schneide zu realisieren, doch Martin Annegarn schafft das mittels einiger Kunstgriffe. Im Bereich von Ricasso und Schleifkerbe wird kein Millimeter verschenkt, und so ist die Schneide exakt so lang wie die Klinge selbst.
Noch entscheidender ist die bogenförmig verlaufende Gratlinie, die ebenfalls den nutzbaren Bereich der Klinge vergrößert.
Doch die effektivste Maßnahme ist der Klingenschliff. Unterhalb der Gratlinie setzt ein stark konkaver Hohlschliff an, der beinahe an den Radius eines Rasiermessers herankommt.
Zusammen mit dem perfekten Anschliff sorgt diese Klingengeometrie für eine Schneidleistung, die man der kurzen Klinge anfänglich nicht zutraut.
Das MAS von Martin Annegarn ist ein giftig-scharfer Schneidteufel und der M390 Stahl bringt die Klingengeometrie perfekt zur Geltung.
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Doch auch der Weg zur Realisierung dieses Klingenschliffs war mit Steinen gepflastert. Martin Annegarn hatte die Klinge gezeichnet, den Radius für den Hohlschliff und den Verlauf der Gratlinie festgelegt. Die ersten in Handarbeit entstandenen Prototypen wiesen nicht auf mögliche Probleme bei der Fertigung der Klinge hin, doch das änderte sich abrupt, als der finale Prototyp maschinell hergestellt wurde. Den bogenförmigen Verlauf der Gratlinie samt bogenförmig ansetzendem Hohlschliff konnte die Maschine umsetzen. Technisch war alles in Butter und die Klinge gleichmäßig scharf, doch optisch überzeugte der maschinelle Hohlschliff unser Kleeblatt nicht.
Krisensitzung per Konferenzsoftware. Zeichnungen und dreidimensionale CAD-Modelle werden ausgetauscht. Ideen werden geboren, diskutiert und schließlich verworfen. Hohlschliff ist ein Muss, ansprechende Optik ebenfalls. Um es kurz zu machen: Die Klingen des MAS von Martin Annegarn werden komplett von Hand geschliffen. Auch der Hohlschliff. Jede Klinge ist ein Unikat.
Corona sorgt für Logistikprobleme
Welthandel und Corona haben sich als lausige Kombination erwiesen. Anfang Dezember schickt TUYA Knife die erste Charge MAS auf die Reise nach Deutschland. Noch vor Weihnachten soll die Sendung eintreffen – bisher hat die Logistik immer zuverlässig funktioniert. Diesmal geht alles schief. Kein MAS unter dem Weihnachtsbaum. Der Januar geht ebenso vorbei wie der Februar. Die Messer liegen laut Computer in einem Frachtterminal in Hongkong und bewegen sich keinen Millimeter. Nachfragen bleiben unbeantwortet und Kim von TUYA Knife telefoniert sich die Finger wund. Updates der Sendungsverfolgung bleiben trotzdem aus.
Nolens volens verschickt TUYA Knife eine zweite Charge mit einem anderen Logistikunternehmen. Das sichert vollmundig die Lieferung innerhalb von zwei Wochen zu. Am Ergebnis ändert sich allerdings nichts. Auch diese Sendung kommt nicht an. Ob der Zoll geschlampt hat oder der Container im Suezkanal gestrandet ist, weiß niemand. Nach über vier Monaten schafft es endlich eine Sendung MAS per Luftfracht nach Deutschland. Die Preiskalkulation steht nun endgültig Kopf. Der Prellbock auch.
Haptik und Ergonomie
Das MAS ist wie viele kleine Slip Joints ein Drei-Finger-Messer. Zeige-, Mittel- und Ringfinger finden am Griff ausreichend Platz, der kleine Finger liegt hinter dem Griff und verhindert, dass das Messer in die Faust hineinrutschen kann. Für seine Größe wartet das MAS mit ordentlicher Ergonomie auf.
Martin Annegarn Streetlegal
Die Griffschalen aus Wüsteneisenholz sind glatt poliert und frei von Rissen oder Fehlstellen. Das Messer liegt nicht nur gut in der Hand, es fühlt sich auch gut an.
Hervorstehende Metallteile oder scharfe Kanten besitzt das Streetlegal von Martin Annegarn nicht. Beim Fit & Finish hat TUYA Knife ganze Arbeit geleistet.
Ein Mini-Manko findet sich an der Achsschraube, die an beiden Seiten etwa einen Millimeter aus den Griffschalen herausragt. Das ist nicht störend und tangiert die Haptik nur unwesentlich, dennoch kostet es ein paar Punkte und verhindert die ansonsten mögliche fünf Sterne Wertung.
Den Daumen kann man oberhalb des Griffendes auf dem Klingenrücken auflegen und so zusätzlichen Druck auf die Schneide ausüben. Nötig ist das nur in den wenigsten Fällen, aber es funktioniert. Die Gefahr, die Klinge mit dem Daumen versehentlich aus der Endposition zu drücken, ist beim MAS geringer als bei vielen anderen Slip Joints.
Martin Annegarn Streetlegal – Fazit
Das Projekt MAS ist die erste Kooperation von Martin Annegarn mit einem externen Hersteller und so ist das Streetlegal auch das erste Taschenmesser des Niederländers, das allen Messerfans zur Verfügung steht. Anfänglich stand Martin dem Projekt etwas skeptisch gegenüber, denn ihm war wichtig, dass die Gene seines Messers durch eine Kleinserienproduktion nicht verwässert werden oder gar verloren gehen.
Das Experiment ist geglückt. Das MAS ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Das erstklassige Material und die hohe Verarbeitungsqualität heben das kleine Taschenmesser aus der Slip Joint Masse heraus. Geglückt ist auch die Umsetzung des Double Detent Systems. Auch wenn die Kräfte beim Öffnen und Schließen nicht grundsätzlich unterschiedlich sind, ist der Effekt spürbar.
Liner, Griffschalen und der statt einer Rückenfeder installierten Back Spacer sind so sauber verschliffen, dass sich kein Übergang ertasten lässt.
Zum Lieferumfang des MAS von Martin Annegarn gehört eine kleine Steckscheide aus Wildleder.
An der Rückseite ist ein Taschenclip angebracht, sodass sich das Streetlegal wie ein „normaler“ Folder in der Hosentasche tragen lässt. Flink aus der Scheide ziehen lässt sich das MAS nicht, die Scheide ist passgenau und das Messer sitzt zumindest anfänglich recht straff.
Um das Taschenmesser bequem aus der Scheide zu ziehen, sollte man es mit der Achsschraube nach unten einstecken und das Messer rund einen Zentimeter aus der Steckscheide schauen lassen. Mit der Steckscheide in Wildlederoptik ist das Streetlegal von Martin Annegarn gut angezogen. Der Taschenclip auf der Rückseite hält die Scheide sicher in der Hosentasche.
Klinge und Schneidleistung sind herausragend und der Einsatz des Messers im Alltag macht Freude. Der vollständig händische Anschliff lässt sich mit bloßem Auge erkennen, was kein Manko darstellt, dafür aber der Geschichte des MAS zusätzliche Glaubwürdigkeit verleiht.
Das Martin Annegarn Streetlegal kostet 169,- Euro. Für den Aufwand, den das Kleeblatt bei Material, Qualität, Dekor und Lederscheide treibt, ist das Messer jeden Euro wert. An der Innenseite mit Perldekor verzierte Liner aus Titan, einmal um die ganze Welt gereistes Edelholz am Griff und zu guter Letzt eine sehr wertige Lederscheide. Dieses Messer wird eine treue Fangemeinde finden und auch Messerfreunde aller Geschlechter ansprechen, die sonst eher einen Bogen um Slip Joints machen.
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Links und Bewertung
- Martin Annegarn bei Facebook
- Bezugsquelle: WritingTurningFlipping
- Knife-Blog Thema: Slip Joints
- Knife-Blog: Messer von TUYA Knife
- Wikipedia: Wüsteneisenholz
Hinweis:
Die Informationen zu Gesetzesvorschriften und rechtlichen Aspekten in diesem Artikel beruhen auf gründlicher Recherche und den angegebenen Quellen, geben aber Meinung und Verständnis eines juristischen Laien wieder und sind daher unverbindlich!